Tom Lichtenthäler / 02.10.2025

Dr. Olaf Strauß lernte im KKW Bruno Leuschner den Beruf des Elektromonteurs und arbeitete dort viele Jahre auf der Schaltwarte Energieabführung. Heute ist er Historiker mit der Spezialisierung „Technikgeschichte“. Im Ehrenamt leitet er den Arbeitskreis Technikgeschichte beim VDI-Bezirksverein M-V (externer Link). Seine Dissertation schrieb er zum Thema „Kernforschung und Kerntechnologieentwicklung in der DDR” (externer Link). Sein Interesse am KGR 6 geht also schon weit zurück. Wir haben mit ihm über die Zukunft des KGR 6 gesprochen.

Du hast schon früh zum KKW Lubmin gefunden und deine Ausbildung dort absolviert. Wie kamst du zum KKW?

Durch meinen zwei Jahre älteren Bruder, der bereits im Kernkraftwerk Elektromonteur lernte. Ich wusste mit 16 so gar nicht, was ich beruflich werden wollte. Ich wusste aber, dass ich aus meiner sehr kleinen Heimatstadt (deren Namen ich hier mal nicht nenne) raus wollte. Mein Bruder sagte: „Komm nach Greifswald, da ist richtig viel los!“ Es war also weniger das Interesse an der Technik, als vielmehr die Sehnsucht nach der großen, weiten Welt. Für mich war das Greifswald damals.

Warum hast du die Branche gewechselt?

Nun ja, siehe oben. Meine Arbeit auf der Schaltwarte und in den Hochspannungsanlagen war spannend, gut bezahlt und hatte mich immer mit Stolz erfüllt. Aber im Herzen war ich eben doch kein Techniker. Den Ausschlag gab die politische Wende in der DDR. Plötzlich gab es so unendlich viele Möglichkeiten! Ich machte an der Abendschule mein Abitur und schrieb mich an der Greifswalder Universität im Fach Geschichte ein. Geschichte war seit der Kindheit meine Leidenschaft.

Was hat dich so am KKW Lubmin interessiert, dass du schließlich sogar deine Doktorarbeit über das Thema Kernkraft in der DDR geschrieben hast?

Auch wenn ich das Kernkraftwerk verlassen hatte – die große Technik und die Physik dahinter hatte mich stets mit tiefer Bewunderung erfüllt. Und mein späterer Doktorvater brachte es dann irgendwann mal auf den Punkt: „So etwas wie Sie gibt es in unserer Zunft ja gar nicht! Sie haben Ahnung von Technik und können das auch noch in Textform bringen. Spezialisieren Sie sich auf Technikgeschichte!“. Ich schrieb dann zunächst meine Magisterarbeit über das Kraftwerk der Versuchsstellen Peenemünde. Dieses Energiethema dann auf die Kernkraft auszuweiten, war für mich nur naheliegend.

Foto des ehemaligen KKW mit Maschinenhalle im Vordergrund. Im Hintergrund sieht man Doppelblock 7/8 und Doppelblock 5/6 mit Abluftkamin.

Blick auf das ehemalige KKW von der Maschinenhallenseite aus. Erkennnbar am großen Abluftkamin: Doppelblock 5/6.
Bildnachweis: Tom Lichtenthäler

Was kann man sich unter der Disziplin Technikgeschichte vorstellen? Warum ist das ein relevanter Teil der Geschichtswissenschaft?

Technikgeschichte wird von außen oft als eine geradlinige Erzählung über bestimmte technische Errungenschaften – etwa vom Abacus zum Personalcomputer – verstanden. Es ist komplizierter! Weit mehr als mit der reinen Evolution technischer Entwicklungen und Erfindungen beschäftigt sie sich mit den Wechselwirkungen zwischen Technik und Gesellschaft in der historischen Perspektive. Sie berührt dabei ebenso Sachgebiete der Natur-, Technik- und Ingenieurwissenschaften wie der Gesellschaftswissenschaften. Technik ist letztlich nur in diesem gegenseitigen Kontext zu erfahren und zu verstehen. Und gerade in einem hochtechnisierten Industrieland wie Deutschland kommt der Geschichte der Technik und ihren Artefakten eine große Rolle beim Verständnis der Wechselwirkungen zwischen dem wissenschaftlich- technischen Fortschritt und der Geschichte sozialer Prozesse, aber auch gegenwärtiger und zukünftiger Entwicklungen zu.

Beim Stichwort Industrie oder Technik denkt man ja nicht unbedingt als erstes an das Bundesland M-V. Passt das Thema überhaupt hier her?

Falscher könnte man ja gar nicht liegen! Mecklenburg-Vorpommern ist geradezu gespickt mit technikhistorischen Artefakten und Denkmälern! Das beginnt bei der kleinen Wasser- oder Windmühle am Dorfrand und endet bei so spektakulären Objekten wie den Peenemünder Versuchsstellen, den früheren Heinkel-Werken in Rostock oder eben dem ehemaligen Kernkraftwerk bei Greifswald. In Anklam entwickelte Otto Lilienthal seine bahnbrechenden Ideen zum Fliegen. Und gerade erst – im Juli 2025 – haben wir mit einem Symposium das 175jährige Jubiläum der Neptunwerft Rostock und deren Beitrag zum Stahlschiffbau gefeiert.
Um all das zu bündeln, haben sich die zahlreichen Institutionen und Museen, die sich hier im Land mit Technikgeschichte befassen, im Arbeitskreis „Ernst-Alban“ zusammengeschlossen. Ernst Alban war übrigens einer der Pioniere des Dampfmaschinenzeitalters. Gebürtig aus Neubrandenburg.

Aus der Sicht des Historikers: was haben alte Industrieklötze wie der KGR 6 uns heute und in Zukunft zu bieten?

Wie ich schon sagte, Technik findet immer im Kontext der Wechselwirkung mit der Gesellschaft statt. Jedes technikhistorische Artefakt, jedes Großobjekt ist stets auch „Kind seiner Zeit“. Der Bedürfnisse der jeweiligen Zeitgenossen. Der Prioritäten der in dieser Zeit bestehenden Herrschaftssysteme. Aber überhaupt auch erst der Möglichkeiten, die sich aus dem jeweiligen Entwicklungsstand der Naturwissenschaften und Technologien für eine praktische Anwendung ergaben. Um bei der Kernenergie zu bleiben – vor exakt 70 Jahren wurde nach einer wichtigen UN-Kernenergiekonferenz in Ost und West mit gleichermaßen viel Euphorie das „Atomzeitalter“ ausgerufen. Die Erwartungen der Menschen, aber auch der Regierungen an die neue Technologie waren ungeheuer und man sah sich auch in diesem Gebiet schnell in einem Wettkampf der politischen Systeme. Kaum 20 Jahre später wurden aus dem Widerstand gegen diese Technologie heraus „Die Grünen“ gegründet, die seitdem die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland entscheidend mitprägten. Ein Paradebeispiel für die Wechselwirkung zwischen Technik und Gesellschaft!

Und dann möchte ich hier natürlich den Respekt vor der Leistung der Wissenschaftler, Ingenieure und Erbauer solcher Objekte anführen. So ein technisches Großobjekt (das gilt natürlich auch für viele kleinere Artefakte) ist immer auch ein Wunderwerk aus dem Zusammenspiel von Wissenschaft und Ingenieurskunst und stellt zu seinem Entstehungszeitpunkt das Ende einer langen Kette von wissenschaftlich-technischen Leistungen und deren Transfer in die Praxis dar. Vielleicht können uns Großobjekte wie der Block 6 also auch etwas Demut vor der Wissenschaft und Technik lehren.

Du und andere haben sich schon früher mit der Erhaltung der Reaktorblock 6 auseinandergesetzt. Warum ist daraus nie etwas geworden?

Es gab immer mal wieder Ideen, was man mit diesem riesigen Objekt machen könnte. Einige waren wohl eher Gedankenspiele, wie etwa die Idee eines gigantischen Abenteuerspielplatzes oder Erlebnisparks. Anderes hatte durchaus schon Substanz; etwa die Idee einer gemeinsamen nordöstlichen Route der Technikmuseen unter Einbeziehung des Historischen Informationszentrums Peenemünde, des Lilienthal-Museums in Anklam und eben des Blocks 6 des ehemaligen Kernkraftwerkes. Dies fand in den späten 90er Jahren auch Eingang in ein Konzeptpapier für den Umbau des Kraftwerkes Peenemünde in einen Museumsstandort, an dem ich damals als junger Praktikant mitarbeitete. Warum daraus nichts geworden ist, weiß ich nicht – damals ging ich bald andere berufliche Wege. Ich vermute, dass vor allem die rechtlichen Grundlagen vieles von vornherein verhinderten – das gesamte Kraftwerk galt ja weiterhin als Atomanlage und Besucher mussten sich vorher anmelden. Und dann ist da natürlich die die schiere Größe dieses Objekts!

Ausschnitt der Blockschaltwarte

Blockschaltwarte
Bildnachweis: Tom Lichtenthäler

Was hattest du bislang für Vorstellungen, was mit dem KKW und speziell dem Reaktorblock 6 passieren würde?

Einmal – zu dieser Zeit arbeitete ich im Deutschen Technikmuseum Berlin – machten wir eine Exkursion in das Kraftwerk. Mein damaliger Chef – der Sammlungsleiter im Sachgebiet Energie – war zutiefst beeindruckt von der Anlage. Wir entwickelten die Idee, für unseren damals im Aufbau befindlichen Sammlungsbereich auch Teile der Schaltwarte und einige Artefakte aus dem Block 6 nach Berlin zu bringen. Schließlich repräsentiert die Kernenergie eine ganze technikhistorische Epoche! Daraus wurde leider aus Kosten- und Raumgründen nichts.
Aktuell wurde das Thema noch einmal, als ich 2017 die Bundes-Arbeitskreisleiter Technikgeschichte des Vereins der Ingenieure durch das Kraftwerk führte. Seitdem gibt es kein Treffen, in dem die VDI-Vertreter mich nicht nach dem Stand der Pläne für eine Erhaltung des Blockes befragen. Das Interesse an einem Erhalt dieses Objekts ist auch über unsere Region hinaus riesig. Unterstützungszusagen gibt es zahlreiche.

Was wünschst du dir für eine Nutzung des KGR 6?

Der Block 6 des ehemaligen Kernkraftwerkes „Bruno Leuschner“ ist einzigartig! Eine so gut erhaltene Atomanlage, die exakt den Stand der damaligen Kerntechnik wiedergibt und zudem begehbar ist, gibt es nach meiner Kenntnis auf der ganzen Welt nicht. Wo auf der Welt kommt man denn schon als „normaler Besucher“ so dicht an einen Kernreaktor heran! Man muss das so verstehen: Alle heute in Betrieb befindlichen Kernreaktoren der Welt werden irgendwann aufgrund ihres Gefahrenpotenzials sicher zurückgebaut werden müssen. Es wird irgendwann auf der ganzen Welt also keine Kernreaktoren mehr geben! Außer evtl. der nie in Betrieb gegangene Reaktorblock 6 des KKW Lubmin. Dieses Objekt wird also irgendwann das vielleicht einzige materielle Zeugnis des „Atomzeitalters“ sein und muss schon deshalb der Nachwelt erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich bleiben.
Am besten fände ich die Einrichtung eines staatlichen Museums. Mir sind natürlich die enormen Kosten bewusst, die der Erhalt und Betrieb eines Bauwerks dieser Größe mit sich bringt. Aber andererseits handelt es sich um ein Industriedenkmal ersten Ranges; auch im internationalen Maßstab. Und schließlich sind wir auch eine Tourismusregion. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Anlage enorm viele Menschen anzieht. Vielleicht wird es ja doch noch etwas mit der Route der nordöstlichen Technikmuseen?

Vielen Dank für die Sichtweise eines Historikers und Einblicke in die bisherigen Diskussionen um die Erhaltung des KGR 6!

Weitere Ausführungen von Olaf Strauß zu dem Thema finden sich unter anderem hier:
Vortrag im DDR-Museum (externer Link)
Auftritt im „Staatsbürgerkunde“ Podcast (externer Link)


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